Die Meere allein werden das Klima nicht retten

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Den Nordpol und Bremerhaven trennen rund 4.000 Kilometer. Und doch sind diese beiden Orte enger miteinander verbunden, als es den Anschein hat. Denn in Bremerhaven ist der Hauptsitz des Alfred-Wegener-Instituts (AWI), Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung. Das Institut erforscht neben der Nordsee auch die Arktis und die Antarktis – von der Atmosphäre bis zur Tiefsee.

Antje Boetius hat ihr ganzes Leben diesen Welten verschrieben. Auf zahlreichen Expeditionen reiste die Meeresbiologin Tausende Kilometer durch das Eis und tauchte so tief, wie es mit heutigen Forschungs-U-Booten nur möglich ist. Seit 2017 leitet sie das AWI, erst im vergangenen Jahr wurde sie als Direktorin wiederberufen.

Durch ihre Forschung und ihre Erfahrung weiß Boetius sehr viel über die Tiefsee und die Polarregionen. Aber auch über die Klimakrise und Frauen in Führungspositionen hat die 55-Jährige eine Menge zu sagen.

Im Interview erzählt sie von ihrer Leidenschaft für die Wissenschaft, Entdeckungen der größten Polarexpedition aller Zeiten und davon, was ihr trotz Klimakrise Mut macht.

Maria Stich:
Frau Boetius, Sie wussten schon als Kind, dass Sie einmal Meeresforscherin werden wollen. Was hat Sie so am Meer fasziniert?
Antje Boetius:
Ich habe als Kind viele Bücher gelesen. Natürlich Jules Vernes 20.000 Meilen unter dem Meer und die Schatzinsel. Das wenige Fernsehen, das ich sehen durfte, waren Filme von Menschen, die auf Welt- und Meeresentdeckung unterwegs sind. Zum Beispiel Jacques Cousteau,1 Hans und Lotte Hass.2 Und es liegt in der Familie: Mein Großvater, Seefahrer, hat immer so von seiner Arbeit geschwärmt. So ist dieser Traum entstanden, Entdeckerin zu sein. Ich dachte mir, es wäre ein toller Beruf, zur See zu fahren; Lebewesen zu sehen, die keiner kennt; unter den Meeren per U-Boot unterwegs zu sein.

Wie ist aus dem Traum Realität geworden?
Antje Boetius:
Ich habe einfach überlegt, welche Wege dazu führen, dass ich auf Expedition gehen kann. Also habe ich für mich beschlossen, dass ich nach der Schule versuchen werde, Meeresbiologie zu studieren. Durch einen glücklichen Zufall habe ich die richtige Arbeitsgruppe gefunden, die viel Tiefseeforschung in Deutschland gemacht hat. Über sie bin ich nach Amerika gekommen. Dann an verschiedene Institute der Meeresforschung, schließlich ans AWI.

»Ich wollte immer nur zur See fahren«

Inwiefern hat das Bild, das Sie als Kind von sich als Entdeckerin hatten, mit dem tatsächlichen Job übereingestimmt?
Antje Boetius:
In großen Teilen hat es übereingestimmt. Am Anfang als Doktorandin und Postdoc3 ging es mir nur darum, Forschungsideen zu haben, zur See zu fahren, Proben zu nehmen, auszuwerten und Paper zu schreiben.

Irgendwann später habe ich mich gefragt: »Wie wird daraus ein lebenslanger Beruf?« Es hat mir unglaublich Freude bereitet, Expeditionen zu machen, und ich wollte eigentlich immer nur zur See fahren. Einen richtigen Karriereplan hatte ich zuerst nicht. Aber ich hatte auch das Gefühl, meine Ergebnisse sind gut und ich kann wissenschaftlich publizieren.

Also nahm ich mir vor, Drittmittel für Forschungsprojekte einzuwerben, eigene Techniker einzustellen, Doktoranden auszubilden und vor allen Dingen auch Professorin zu werden, damit ich langfristig dieser Arbeit nachgehen kann. Ich hatte das unglaubliche Glück, dass damals in Bremen eine private Hochschule eröffnet hat und ich dort ein Angebot für eine Professur bekommen habe. Und dazu eine feste Stelle, zunächst am AWI.

Antje Boetius ist eine vielfach preisgekrönte Wissenschaftlerin, die mit ihrer breiten Feldforschung die Folgen des Klimawandels für die Ozeane und das Leben in der Tiefsee ergründet.

Copyright Alfred-Wegener-Institut / Kerstin Rolfes

Und Sie konnten trotz der Arbeit als Professorin weiter zur See fahren.
Antje Boetius:
Genau. Das habe ich jedes Jahr für ein paar Monate gemacht. Es wurde erst weniger, als ich Direktorin vom AWI, dem Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung geworden bin. Da kann ich mich nicht monatelang in den Weltmeeren herumtreiben. Allerdings habe ich mir vorgenommen, dass ich dieses Jahr, in meinem sechsten Jahr als Direktorin, wieder eine große Nordpolexpedition leiten und mit meinem Team dorthin fahren kann.

Die wievielte Expedition Ihres Lebens wird das sein?
Antje Boetius:
Das wird die 50. große Expedition. Ich hatte auch weiterhin Tiefseetauchgänge mit dem U-Boot, aber immer nur ganz kleine Missionen. Es ist für mich wichtig, dass ich jetzt mal wieder bei einer richtig großen internationalen Expedition dabei bin.

Worauf freuen Sie sich dabei am meisten?
Antje Boetius:
Am meisten freue ich mich auf die Begegnung mit den Seeleuten und Wissenschaftlern, die ich dort kenne. Außerdem auf die Begegnung mit dem Eis. Das arktische Meereis steht neben den Korallenriffen weltweit am stärksten unter Druck durch den Klimawandel.

Ich war schon während meiner Doktorarbeit in der Region. 2012 habe ich ebenfalls eine Expedition begleitet, die beobachtet hat, wie stark das Meereis schmilzt. Damals gab es die größte Meereisschmelze im Sommer. Jetzt, 10 Jahre später, ist mir wichtig, das als Augenzeugin zu erleben und zu erforschen, was die Veränderungen mit dem Leben in der Tiefsee machen.

War Ihnen das Ausmaß der Klimakrise schon immer bewusst?
Antje Boetius:
Als junger Mensch war mir die Klimakrise – die sich damals schon in wissenschaftlichen Kreisen und in den Kreisen der Erdöl- und Erdgasindustrie auch rumgesprochen hatte – in ihrer Dramatik und Geschwindigkeit noch gar nicht so bewusst.

Aber mir war klar, dass der Ozean eine ganz fundamentale Rolle für das Klimagleichgewicht und das CO2 in der Atmosphäre spielt. Das hat mich interessiert, weil dabei auch die Tiefsee von so wichtiger Bedeutung ist. Dazu habe ich in verschiedenen Weltregionen geforscht und besonders die Aufgaben der Mikroorganismen in diesem Kohlenstoffkreislauf analysiert.

»Die Meere werden immer mehr als Garanten unserer Zukunft in den Blick genommen«

Können Sie diesen Kreislauf ganz kurz erklären?
Antje Boetius:
Das Besondere an unserem Planeten ist, dass er zu 70% von Wasser bedeckt ist. Und CO2 löst sich ganz gut im Meerwasser. Das Wasser selbst wird etwas saurer durch die Lösung von CO2. Das kennen wir von Mineralwasser. Diesen reinen Lösungsprozess nennt man physikalische Kohlenstoffpumpe.

Daneben gibt es noch die biologische Kohlenstoffpumpe. Damit ist die Leistung der Algen, Bakterien und des restlichen Lebens im Meer gemeint, die eine wichtige Rolle bei der längerfristigen CO2-Speicherung spielen. Die Algen nehmen das CO2 durch Fotosynthese auf, speichern es und dann wird es über das Nahrungsnetz verwertet und fällt in die Tiefsee.4

Das fand ich als junger Mensch absolut faszinierend. Die Forschung dazu war auch spannend: Man hat riesige Fallen mit einem Quadratmeter Durchmesser ins Meer gehängt und darin alles gesammelt, was absinkt. Es war und ist ein Riesenthema herauszufinden, was für klimatische Bedingungen es gibt, unter denen mehr oder weniger Kohlenstoff in die Tiefsee fällt.

Die Rolle der marinen Kohlenstoffpumpe im Kohlenstoffkreislauf.

Copyright

Frauke Berger

Das heißt, man wollte herausfinden, ob die Tiefsee uns retten kann – indem sie die wachsenden CO2-Emissionen der Menschheit wieder aus der Atmosphäre zieht?
Antje Boetius:
Die Tiefsee trägt über geologische Zeiträume zwar tatsächlich etwas Wichtiges bei, speichert Kohlenstoff und gibt Nährstoffe wie Stickstoff oder Phosphat zurück.

In den letzten Jahren ist die Funktion der Ozeane als CO2-Senke aber sogar zurückgegangen. Wenn wir Lösungen für die Klimakrise suchen, müssten wir die Entfernung von Treibhausgasen aus der Atmosphäre aktiv beschleunigen. Dann dürfen die Meere aber nicht wärmer werden, denn kaltes Wasser nimmt CO2 besser auf – und das geht ja nicht, weil die Klimaerwärmung schon da ist.

Es gibt derzeit ganz viele Projekte, die das Meer als CO2-Senke »ausbauen« möchten …
Antje Boetius:
Ja, ich finde das interessant, wie die Meere immer mehr in den Blick genommen werden als Lösung und gewissermaßen Garanten unserer Zukunft. Dazu gibt es ganz viele verschiedene Analysen und Versuche.

Zum Beispiel Nährstoffe an die Oberfläche zu pumpen, damit sich der Kohlenstofffluss erhöht. Oder CO2 aus der Atmosphäre einzusammeln und im Meeresboden in leeren Öl- und Gasspeichern zu verbuddeln. Oder viel mehr Algen, Mangroven5 und Seegraswiesen anzupflanzen.

Mangrovenwälder (auf dem Foto an der Küste Kenias) wachsen am besten mit ausreichend Zugang zu Süßwasser. Anders als anderen Bäumen macht ihnen Salzwasser aber nichts aus.

Timothy K. (public domain)

Aber von diesen Lösungen halten Sie nichts? Weil die Folgen solcher Versuche nicht absehbar sind?
Antje Boetius:
Unser größtes geophysikalisches Experiment, das jetzt schon läuft, ist die unfassbar hohe Verbrennung fossiler Brennstoffe. Im Vergleich dazu ist es ein viel geringerer Einfluss auf die Meere, zu versuchen, Mangroven, Makroalgen und Seegraswiesen zurückzugewinnen.

Leider ist es nicht so einfach, wie sich manche Menschen das vorstellen. Es gibt Leute, die meinen: Wir pflanzen einfach überall mehr Bäume und dann haben wir den Klimaschutz geschafft. Doch dafür braucht es sehr viel Raum und die Bäume sind schon jetzt durch Dürre und Brände gefährdet. Das Problem ist: Pflanzen – ob an Land oder im Meer – sind sehr empfindlich gegenüber Wärme. Es müssen sehr viele Faktoren stimmen, damit sie schneller wachsen.

Wir haben in den letzten 10 Jahren 60–70% der CO2-speichernden Lebensräume im Meer verloren. Das müssen wir erst wieder zurückgewinnen, bevor Algen, Seegraswiesen und Mangroven überhaupt netto mehr CO2 aus der Atmosphäre rausholen. Ich habe mir ein paar Projekte angeguckt, wo Menschen versuchen, Riffe zu reparieren oder Seegraswiesen anzupflanzen. Unglaublich mühsam.

Was wäre sinnvoller?
Antje Boetius:
Der effizienteste und wirksamste Klimaschutz ist das schnelle Hochfahren von regenerativen Energien. Und der schnelle Ausstieg aus zuallererst Kohle, dann Öl und zuletzt auch Gas. Das wird immer günstiger und schneller sein als der Versuch, mit den Meeren jetzt noch weiter CO2 rauszuholen. Die tun wie gesagt schon ihren Teil.

Im Herbst 2019 startete die MOSAiC-Expedition.6 Sie gilt als größte internationale Arktisexpedition aller Zeiten und wurde vom AWI geleitet. Dafür ließ sich das Expeditionsschiff Polarstern in der Arktis festfrieren und für ein Jahr mit dem Meereis treiben. Im Lauf des vergangenen Jahres wurden die ersten Erkenntnisse von MOSAiC veröffentlicht. Seit Januar sind die Daten auch öffentlich zugänglich für jeden Menschen auf der Welt. Als Nichtwissenschaftler:in kann man damit aber ehrlich gesagt nicht viel anfangen. Für Laien erklärt: Was waren Ihrer Meinung nach die 3 wichtigsten Entdeckungen?
Antje Boetius:
Erst einmal ganz grundsätzlich: Die ganze Expedition war darauf angelegt, zu bestimmten Lücken im Wissen Antworten zu finden, und sie wurde jahrelang vorbereitet. Es wird auch noch Jahre dauern, sie auszuwerten.

Eine zentrale Frage war: »Wie warm ist der Winter in der Arktis heute im Vergleich zu Fridtjof Nansens7 Zeiten?« Das Ergebnis: Wir sind bei 10 Grad mehr! Das ist unglaublich. MOSAiC hat auch zu der Erkenntnis beigetragen, dass sich die Arktis in den letzten 40 Jahren 4-mal schneller erwärmt hat als der Rest der Welt.

Eine zweite wichtige Entdeckung: Es gab ein riesiges Ozonloch. Dabei wurde ein bestimmtes Phänomen in der Atmosphäre entdeckt, das dieses Ozonloch antreibt – und auch das ist auf den Klimawandel zurückzuführen.

Die Polarstern, festgefroren im Packeis (5. Oktober 2019).

Alfred-Wegener-Institut / Marcel Nicolau (CC BY 4.0)

Und drittens?
Antje Boetius:
Drittens finde ich sehr erstaunlich, dass die bekannte schnelle Meereisschmelze riesige Süßwasserseen unter dem Eis erzeugt. Kaltes, süßes Wasser liegt oben auf dem Rest der salzigen Wasserschicht. Das Süßwasser bietet zwar ein Zuhause für bestimmte Arten. Aber es schichtet die Meere so stark, dass weniger Nährstoffe an die Oberfläche kommen und sich ozeanische Prozesse verändern.

Ich habe noch ein viertens: Meine biologische Lieblingsbeobachtung ist, dass atlantische Fische wie Kabeljau und Schellfisch schon sehr weit in die Arktis vorgedrungen sind. Dazu muss es noch viel weitere Forschung geben: Können sich diese Fische dort oben fortpflanzen oder schwimmen sie nur als Adulte dorthin und sterben dann?

Und es gibt noch so viel mehr interessante Erkenntnisse, es kommen laufend neue dazu. Die großen Arbeiten stehen uns noch bevor.

»Wir müssen uns die Zukunft anders bauen, nicht nur als eine verlängerte Gegenwart«

Sie sind mit dem U-Boot mehrere Tausend Kilometer tief getaucht, sind mit Haien geschwommen, haben Wale beobachtet. Aus der Ferne wirken Sie so, als könnte Sie nichts davon aus der Ruhe bringen. Gibt es irgendetwas, wovor Sie Angst haben?
Antje Boetius:
In den Meeren gibt es eigentlich nichts, was mir Angst macht. Ich war auch schon in großen Stürmen, die nicht gut vorhergesagt waren und wo es dann auch gefährlich geworden ist, vor allen Dingen auf der Nordsee. Das war unangenehm. Aber auch da hatte ich nicht wirklich Angst.

Ich mache mir natürlich fundamental Sorgen um unsere gemeinsame Zukunft. Um den Zustand der Meere und unsere Fähigkeit, als Menschheit umzusteuern.

Gehen Sie davon aus, dass die Menschheit eine Zukunft hat, für die es sich zu kämpfen lohnt?
Antje Boetius:
Ja. Und die Lösungen liegen ja auf der Hand. Es gibt da leider auch Missverständnisse. Die Welt ist nicht übermorgen zu Ende und alle Menschen müssen sterben. Aber Leid und Ungerechtigkeiten nehmen zu, weil durch den verpassten Klimaschutz vor allen Dingen die Ärmsten der Armen bestraft werden, die am wenigsten zu den CO2-Emissionen beigetragen haben. Immer wieder sind es die Leute, die gerade mal ein Dach überm Kopf haben, denen Starkregen, der Wind und Extremwetter drohen und die alles verlieren. Und die Klimakrise bedroht unzählige Arten.

Wir wissen heute, dass es keine Klimagewinner gibt, sondern dass es jeden treffen kann. Diese Ungerechtigkeit halte ich auch für eine Gefährdung des friedlichen Zusammenlebens.

Sie haben vorhin ja gesagt, dass Sie bei Expeditionen immer wieder mit eigenen Augen sehen, wie das Eis immer schneller und immer mehr schmilzt. Wie schaffen Sie es dennoch, optimistisch zu bleiben?
Antje Boetius:
Ich versuche, nicht still zu stehen, sondern alles zu tun, damit ich einen Beitrag leiste. Selbst etwas mitzukriegen und dann nichts zu tun – das finde ich furchtbar. So habe ich es wenigstens versucht.

Und ich glaube auch, dass die Beharrlichkeit der wissenschaftlichen Erkenntnis und der Kommunikation auf allen Ebenen schon etwas geändert hat. Die Gesellschaft weiß, dass es so nicht weitergeht. Wir müssen uns die Zukunft anders bauen, nicht nur als eine verlängerte Gegenwart. Da macht mir Mut, dass so viele Menschen das schon verstanden haben und aktiv mithelfen.

Wie sieht der Alltag auf einem Forschungsschiff aus? Unter welchen Bedingungen arbeiten Polarforscher:innen? PBS Nova hat die Arktisexpedition der Polarstern mit der Kamera begleitet. Hier findest du die rund einstündige Dokumentation (englisch):


Youtube Video

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