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Regen tropft von meiner Nasenspitze, als ich die Steintreppen zum Wasserfall hinuntersteige. Jede Stufe führt mich tiefer in den Wald. Und jede Stufe lässt mich ein Stück mehr nachvollziehen, was die bis zu 16 Millionen Tourist:innen jährlich hierher in den Lake District1 zieht. Das Blätterdach ist dicht, die mit Moosen umhüllten Bäume sind alt und verzweigt. Farne wachsen bis in ihre Wipfel. Durch das Regenwetter sind die Farben gedämpft, was dem Ort zusätzlich etwas Mystisches verleiht.
Wer den Nationalpark in Nordwestengland betritt, kann sich seiner einzigartigen Atmosphäre kaum entziehen. Jedoch wissen nur die wenigsten, mit was für einer Kostbarkeit sie es zu tun haben – weder die Viktorianer:innen im 18. Jahrhundert,2 für die die Region ein beliebter Ausflugsort war, noch die Millionen von Besuchenden heute.
Sogar vielen der im Lake District heimischen Menschen ist es nicht bewusst: Sie leben mit einem der wenigen verbliebenen Regenwälder Großbritanniens, ja sogar ganz Europas.
Anders als die Regenwälder in Brasilien, Zentralafrika oder Südostasien wachsen sie nicht in tropischen Klimazonen. Sie sind deutlich kühler und werden »gemäßigte Regenwälder« genannt. Was sie mit ihren tropischen Verwandten gemeinsam haben und sie zu Regenwäldern macht: Sie haben das ganze Jahr über ein feuchtes Klima und einen hohen Niederschlag. Dass es bei meinem Besuch regnet, ist also ein wesentlicher Charakterzug des Nationalparks.
Ihre klimatischen Bedingungen machen gemäßigte Regenwälder zu wichtigen Ökosystemen und zu Hotspots der Artenvielfalt. Da sie jedoch keine schillernden Kolibris, bunten Papageien, gefährlichen Jaguare und Elefanten oder saftigen Papayas beheimaten, sind sie nicht so offensichtlich und eindrucksvoll wie ihre schwülen Verwandten. Daher werden sie bei Natur- und Klimaschutzmaßnahmen bislang vernachlässigt. Umweltschützer:innen in Großbritannien ändern das momentan. Sie erforschen die seltenen Lebensräume und zeigen, wie wichtig sie sind (auch für uns). Sie beherbergen einige der ältesten Lebewesen der Welt und wir können einiges von ihnen lernen. Wie etwa: Menschen sind keine Individuen.
Wie Großbritannien seine Regenwälder wiederentdeckte
Die Fragmente britischer gemäßigter Regenwälder sind erst vor Kurzem »wiederentdeckt« worden. Eigentlich ist es eher eine Umbenennung eines Lebensraums, der zuvor als Atlantischer Eichenwald bekannt war.3 Dass es sich per Definition um gemäßigte Regenwälder handelt, war nur einigen Wissenschaftler:innen und Naturkenner:innen bewusst. Einer davon ist Guy Shrubsole, ein ehemaliger Aktivist der internationalen Umweltschutzorganisation »Friends of the Earth« (Freund:innen der Erde). Heute arbeitet er als Forscher und Buchautor.
Er fand heraus: Derzeit sind rund 1% der Fläche Großbritanniens mit den nassen Wäldern bedeckt, Tendenz schwindend.
Viele der englischen Regenwälder sind vor langer Zeit durch die Äxte bronzezeitlicher Bauern und mittelalterlicher Zinnbergleute verloren gegangen. Andere gingen in jüngerer Zeit durch eine gut gemeinte, aber zutiefst fehlgeleitete Forstpolitik verloren, die dazu führte, dass uralte, knorrige Eichen zugunsten schnell wachsender Sitka-Fichten gefällt wurden. Und an vielen Orten, an denen Regenwälder auf natürliche Weise gedeihen würden, hat die Überweidung durch Schafe – deren scharfe Zähne hungrig jedes Bäumchen auffressen – ihre Rückkehr verhindert. – Guy Shrubsole in The Guardian
Die meisten Regenwaldgebiete stünden nicht unter Naturschutz. Wie viel Fläche sie einmal bedeckt haben, ist noch nicht bekannt. Doch rund 20% der Landfläche Großbritanniens weisen das richtige Klima auf, um gemäßigte Regenwälder zu beheimaten. Das zeigt eine Studie aus dem Jahr 2016.
Diese Erkenntnisse haben den Aktivisten optimistisch gestimmt. Er machte es sich zur Mission, die verbliebenen Regenwaldfragmente im Vereinigten Königreich zu schützen. Der erste Schritt dahin war, die Wälder durch eine gezielte Umbenennung aufzuwerten. So erstellte er 2021 einen Blog namens »Die verlorenen Regenwälder Großbritanniens«.
In einem zweiten Schritt wollte er sich einen Überblick verschaffen, welche Regenwaldfragmente überhaupt noch existieren. Sie wurden zuvor noch nie kartiert. Also rief er über seinen Blog Menschen dazu auf, Informationen und Bilder von potenziellen Regenwaldgebieten einzureichen.
Das Projekt stieß bei den Brit:innen, die während Pandemie und Lockdowns die Natur vor ihrer eigenen Haustür erkundeten, auf große Resonanz. Die mediale Berichterstattung und der generelle Wunsch der Einheimischen nach mehr Blätterdächern taten ihr Übriges. Denn nur rund 13% der Landfläche Großbritanniens sind bewaldet, damit ist es eines der Schlusslichter im Europa-Vergleich.
Auf seinen Aufruf erhielt Guy Shrubsole Tausende Einsendungen. Diese verifizierte er mithilfe von Bildern oder durch eigene Reisen und veröffentlichte sie auf einer für alle einsehbaren Onlinekarte. Sein Wissen hat der Aktivist 2022 in einem Buch veröffentlicht.
Zusammen mit der Karte hofft er, dass die gesammelten Informationen Behörden und anderen Naturschützer:innen helfen, um geschützte Regenwaldgebiete und wirksame Strategien zur Bewirtschaftung der Wälder einzurichten.
So erkennst du gemäßigte Regenwälder
Die meisten Regenwaldfragmente in Großbritannien befinden sich in Küstenregionen oder in Bergregionen mit tiefen Einschnitten wie Flüssen, Schluchten und Wasserfällen. Sie tragen zu den feuchten Bedingungen bei. So sind die britischen Regenwälder vor allem an der steilen Westküste Schottlands und Nordirlands, dem bergigen Wales, dem hügligen und vom Meer umgebenen Cornwall und Devon in Südwestengland zu finden. Und in den Bergen des (wie der Name schon hergibt) seenreichen Nationalparks Lake District, den ich besucht habe.
Wie du einen gemäßigten Regenwald von einem nassen Wald unterscheidest?
- »Epiphyten« ist die Antwort von Guy Shrubsole. Also Pflanzen, die auf anderen Pflanzen wachsen. In tropischen Regenwäldern sind es Orchideen, in Großbritannien eher Moose, Farne und Flechten. Sie können aufgrund der dauerfeuchten Umgebung auf Stämmen und aufeinander bis hoch in die Baumwipfel wachsen. Ihr Vorhandensein ist der am einfachsten zu erkennende Indikator von gemäßigten Regenwäldern.
Dass es sich dabei nicht nur um »ein paar Farne« handelt, erkennst du leicht. Moose und Farne umarmen die Stämme, Äste und Steine wie ein enges, pelziges Kleid. Sie sind das ganze Jahr über grün.
- Als Zweites kannst du auf Kletterpflanzen achten, wie Efeu, Clematis und Geißblatt. Sie allein sind noch kein Indiz für einen gemäßigten Regenwald, doch zusammen mit Epiphyten sind sie gut zu erkennende Merkmale.
- Dann braucht es natürlich noch eine gewisse Regenmenge. Vor allem die auf den Bäumen wachsenden Moose, Farne und Flechten leben vom Regenwasser, das an den Stämmen der Bäume herunterrieselt, und von Tröpfchen, die in Wolken und Nebel schweben. Daher ist nicht nur die durchschnittliche jährliche Niederschlagsmenge wichtig, sondern auch, dass es zu jeder Jahreszeit genügend regnet.
Warum die nassen, kühlen Wälder so wichtig sind
Weltweit ist der gemäßigte Regenwald in so unterschiedlichen Ländern wie Irland, Japan, Neuseeland, Kanada und Chile zu finden. Aber nicht jeder sieht so aus wie in Großbritannien. Ja, nicht einmal die Regenwaldfragmente im Lake District ähneln denen an der schottischen Westküste, in Wales oder im südlichen Cornwall. Genau das macht sie so besonders.
Ihre Artenvielfalt ist nicht so hoch wie in den großen tropischen Wäldern. Dafür haben sich die kühleren Regenwälder genau an ihre Standorte angepasst. In ihnen gibt es Tier- und Pflanzenarten, die nur dort zu Hause und entsprechend selten sind. So sind die gemäßigten Regenwälder im Vereinigten Königreich mit uralten Eichen übersät, von denen viele Hunderte, wenn nicht Tausende von Jahren alt sind. Und im Sommer ziehen seltene Zugvögel wie der braun-weiße Trauerschnäpper und der Waldlaubsänger ein, um im feuchten Boden und zwischen den Moosen und Pilzen nach Insekten zu suchen.
Außerdem beherbergen sie einige der größten und ältesten Organismen der Welt: Flechten. Nach diesen Lebewesen habe ich mich im englischen Regenwald auf die Suche gemacht. Denn von ihnen können wir einiges lernen.
Ein Gedankensprung: Warum Menschen keine Individuen sind
Verschlungene graublaue Rosetten ziehen sich über den Stamm. Daneben wachsen feine, weißgelbe Härchen. Wenige Zentimeter darunter bedecken weiße Pusteln die Rinde. Sie sehen aus wie Seepocken, die Muscheln und Felsstrände überziehen. Die Formen und Farben der Flechten erinnern an Korallenriffe. Ich beuge mich weiter zum Baum vor, um sie genauer zu betrachten. Das Moos des Baumstamms kitzelt meine Nase, ich atme den Geruch von nassem Holz und Erde ein.
Die meisten werden Flechten kennen. Sie wachsen nicht nur in Regenwäldern, dort allerdings besonders gern. Sie kommen häufig als gräuliche oder grünliche Kruste auf Baumstämmen daher und werden als Baumkrankheiten abgetan – und wie die gemäßigten Regenwälder übersehen. Dabei gehören sie zu den faszinierendsten Lebensformen weltweit, welche die Naturwissenschaften immer wieder vor Herausforderungen stellen und zeigen, dass wir Menschen unsere Umgebung und uns selbst nicht verstanden haben.
Jahrhundertelang hielten Forschende Flechten für Pflanzen, später für Pilze. In den 1860er-Jahren entdeckte der Schweizer Botaniker Simon Schwendener jedoch: Es handelt sich um eine Partnerschaft zwischen einem Pilz und einer Alge. Diese leben in so enger Symbiose miteinander, dass sie zusammen einen völlig neuen Organismus bilden. Dabei produzieren Algen oder Bakterien Nahrung für den Pilz, indem sie CO2 durch Fotosynthese in Zucker umwandeln. Der Pilz wiederum gibt die Struktur vor und bringt Wasser, Mineralien und andere Nährstoffe mit in die Beziehung, die er aus der Luft, dem Regen oder seinem Standort aufnimmt.
Erst vor wenigen Jahren fanden Forschende heraus, dass Flechtenarten nicht nur aus 2 Symbiosepartnern, sondern aus einem Zusammenschluss von mehreren Pilzen, Algen und Cyanobakterien bestehen können – also Bakterien, die Fotosynthese betreiben. So wie Licht sowohl Welle als auch Teilchen ist, sind die Mitglieder einer Flechte sowohl Individuen als auch Teile eines Ganzen.
Damit stellen Flechten die Forschung vor eine große Frage: Was ist überhaupt ein Individuum?
Diese Frage haben bereits einige Forscher:innen auf den Menschen übertragen, wie der britische Biologe und Pilzexperte Merlin Sheldrake in seinem Bestseller »Verwobenes Leben«. Er argumentiert, dass der Mensch unter keinem biologischen Kriterium als Individuum betrachtet werden könne, da er zum Überleben auf die Symbiose mit anderen Arten angewiesen sei. Man denke allein an die Verdauung:
Wir können nicht aus anatomischen Gründen [als Individuum] definiert werden, weil wir unseren Körper mit Mikroben teilen und aus mehr mikrobiellen Zellen bestehen als aus unseren »eigenen« – Kühe können zum Beispiel kein Gras essen, aber ihre mikrobiellen Populationen können es, und der Körper der Kühe hat sich so entwickelt, dass er Mikroben beherbergt und sie ernährt. – Merlin Sheldrake in »Verwobenes Leben«
Die Worte des Biologen hallen in meinem Kopf nach, als ich meine Finger gedankenverloren über die weißgraue Bartflechte vor mir streichen lasse. Sie ist handgroß, also muss sie über 100 Jahre alt sein. Die meisten Flechten wachsen nämlich nur 1 Millimeter pro Jahr oder langsamer. Eines der ältesten, noch lebenden Geschöpfe der Welt ist eine gelbe Landkartenflechte auf der kanadischen Baffininsel. Sie wächst auf Gestein, ist kaum größer als eine Familienpizza und soll über 9.800 Jahre alt sein.
Das sind unvorstellbar große Zeitspannen für einen Menschen. Generell ist das Leben der Flechten für den Menschen – auch durch die rein wissenschaftliche Brille – noch kaum erfassbar. Und doch fühle ich mich in diesem Moment dem Mikroorganismus unter meinen Fingern nahe. Denn so verschieden sind wir gar nicht. Wir sind wie sie: etablierte Netzwerke und Teil der Natur.
So können die gemäßigten Regenwälder wieder wachsen
Die Aufmerksamkeit der vergangenen Jahre hat den gemäßigten Regenwäldern in Großbritannien gutgetan. Gemeinnützige Organisationen und Privatpersonen in England, Wales und Schottland haben Projekte gestartet, um ihre lokalen Regenwälder zu schützen und zu erweitern. Abgesehen vom Klimawandel sind die 2 größten Bedrohungen die Überweidung durch Schafe oder Rehe und invasive Pflanzenarten, insbesondere Rhododendren. Die Tiere grasen das Unterholz ab, sodass die einheimischen Bäume nicht mehr nachwachsen können, während der Strauch einheimischen Pflanzen das Licht abschneidet und den Platz wegnimmt.
Deswegen fokussieren sich die meisten Projekte darauf, mit lokalen interessierten Menschen ins Gespräch zu kommen und sie für das Thema zu sensibilisieren. Mit ihnen gemeinsam wollen sie dann etwa auf Rhododendren-Jagd gehen oder Landwirt:innen ins Boot holen, um betroffene Gebiete einzuzäunen. Die gute Nachricht: Wie sich zeigt, erholen sich die Regenwälder von selbst gut und brauchen nur den nötigen Freiraum, um sich wieder zu entfalten. (20% der Landfläche haben immerhin gute klimatische Bedingungen, um sie wieder willkommen zu heißen.)
Es gibt noch keine offiziellen Zahlen dazu, wie hoch der Nutzen der gemäßigten Regenwälder Großbritanniens für die Wirtschaft ist, also etwa, wie viel CO2 sie speichern können. Doch die Zahlen werden sicher bald folgen. Sie werden als Argument gebraucht, wenn die britische Regierung die Vorhaben unterstützen soll.
Bis dahin ist der gemäßigte Regenwald in guten Händen. Die Umweltschutzorganisation The National Trust, der der Regenwald im Lake District gehört und die ihn managt, hat etwa erst im Mai eine neue Aussichtsplattform in der Nähe des Wasserfalls fertiggestellt und die Wege im Nationalpark neu gesichert. Auch das gehört mit der zunehmenden Beliebtheit der wiederentdeckten Wälder zu einem verantwortungsbewussten Waldmanagement dazu. So wird Besucher:innen ermöglicht, mehr über die Wälder zu erfahren und sie auf festen Wegen zu genießen, ohne das Ökosystem allzu viel zu beschädigen.
Auch für die Forschung ist der Erhalt dieser mystischen Orte von großem Interesse. Wie genau die Symbiosen der verschiedenen Mitglieder, die eine Flechte bilden, aussehen, wie flexibel oder spezifisch sie sind und warum sie diese Beziehungen miteinander eingehen – darüber sind Wissenschaftler:innen heute noch verschiedener Meinung. Klar ist jedoch: Je näher wir der Lösung des Rätsels kommen, desto eher vermögen sie unser gesamtes Verständnis von Lebewesen und Beziehungen zu verändern.