Dieser Mann will den Speiseplan für Schulkinder revolutionieren

Anna hat gerade 5 Stunden Unterricht hinter sich. Ganz schön viel für das Gehirn einer 10-Jährigen. Umso wichtiger ist es für sie, neue Energie zu tanken. Und wie kann sie das besser als durch eine gesunde Mahlzeit? Voller Vorfreude läuft sie mit ihrer Klasse in die Schulmensa. Heute auf der Speisekarte: Spaghetti Bolognese.

Doch die weißen Nudeln sind aus stark verarbeitetem Mehl und enthalten somit kaum Nährstoffe. Das Hackfleisch: unbekannten Ursprungs. Auch wie die Tomaten produziert wurden oder woher sie stammen, ist unklar. Besonders gesund ist dieser Ernährungsplan nicht – weder für Annas Körper noch für den Planeten, auf dem sie lebt, und dessen Klima.

Was gesunde Schulmahlzeiten mit dem Klimawandel zu tun haben? Das wurde Peter Defranceschi in seinem Leben schon häufig gefragt, besonders von Politiker:innen.

Er ist Direktor von Local Governments for Sustainability (ICLEI) in Brüssel, einem Verband von 2.500 Städten und Regionen auf der ganzen Welt, die ihren CO2-Fußabdruck verringern wollen. Seit Jahren versucht er das Thema klimafreundliche Landwirtschaft und Ernährung auf die politische Agenda von Klimakonferenzen und Treffen der EU-Institutionen zu bringen; doch lange glich dies einer Sisyphusarbeit. Politiker:innen und Unternehmer:innen sprachen lieber über weniger heikle Themen wie erneuerbare Energien oder Aufforstung von Regenwäldern. Denn die Fragen, was wir in Zukunft essen wollen und wie wir Nahrung klimafreundlich produzieren können, betreffen das eigene Leben und persönliche Vorlieben viel direkter. Selbst Umweltorganisationen schrecken deshalb vor Unwörtern wie »Fleischverzicht« häufig zurück.

Peter Defranceschi übergibt das Manifest von ICLEI an die Europäische Kommission. Darin stehen Mindestkriterien für nachhaltige Essenspläne an Schulen und Krankenhäusern.

Copyright ICLEI

Dabei ist unser Ernährungssystem laut einer Studie im Fachmagazin Nature Food für 1/3 der globalen Treibhausgase verantwortlich, vor allem unsere Landwirtschaft und Bodennutzung.1 Der jüngste Bericht der Umweltorganisation WWF »Europe eats the world« (auf Deutsch: Europa frisst die Welt) zeigt: Die EU ist der weltweit zweitgrößte Importeur von Produkten,2 die mit der Abholzung von Regenwald zusammenhängen. Was wir essen, heizt nicht nur den Planeten auf, sondern zerstört auch Lebensräume und verringert die Vielfalt von Tier- und Pflanzenarten.

Gleichzeitig zeigt der Bericht aber auch: Die Konsument:innen sind bereit für einen Wandel. 3 von 5 Europäer:innen wollen klimafreundlicher essen; 3 von 4 wünschen sich sogar, die EU möge gesetzlich regeln, dass alle in der EU verkauften Produkte nicht zum Artensterben beitragen.

Die EU-Kommission scheint das nun verstanden zu haben. Sie will unsere Teller grüner gestalten und hat dafür die »Farm-to-Fork-Strategie« (auf Deutsch: vom Hof auf den Teller) ins Leben gerufen. Bis Ende 2023 plant die Kommission, ein konkretes Gesetzespaket für ein nachhaltigeres Ernährungssystem der EU vorzustellen.

Das ist der Moment von Peter Defranceschi. Mit der Kampagne »Buy better food« (auf Deutsch: Kaufe besseres Essen) hat sein Netzwerk ICLEI einen Vorschlag erarbeitet, wie diese Strategie an öffentlichen Kantinen wie Schul- oder Krankenhausmensen umgesetzt werden kann.

Kleiner Teller, große Wirkung

Das Ziel von Peter Defranceschi: Was auf den Speiseplänen unserer Kinder landet, soll gesund, fair produziert und umweltfreundlich sein.

»Die EU rät den Gemeinden als öffentliche Beschaffer zwar, bei den Ausschreibungen für Essenslieferungen nicht bloß auf den günstigen Preis zu schauen. Jedoch ist das oft eine freiwillige Maßnahme«, bedauert Defranceschi. In der Realität würden Kommunen häufig einzelne Cateringfirmen für die Belieferung von mehreren Hundert Kindergärten beauftragen, um Kosten zu sparen. Da sei es viel schwieriger, Umweltstandards durchzusetzen oder zu überprüfen.

ICLEI hat deshalb gemeinsam mit Nichtregierungsorganisationen aus der EU ein Manifest mit 7 Zielen für eine nachhaltige Verpflegung an Schulen oder Gesundheitseinrichtungen entworfen und im Oktober der Kommission überreicht:

  1. 20% der Lebensmittel sollen aus biologischem Anbau stammen.
  2. 10% der Lebensmittel sollen von kleinen Produzent:innen in der Region erzeugt werden.
  3. 25% der Treibhausgase sollen reduziert werden, indem mehr pflanzliches Essen auf den Speiseplan kommt, indem die Lieferketten verkürzt werden, indem saisonales Gemüse und Obst serviert wird und indem weniger Essen weggeworfen wird.
  4. 25% der Lebensmittel, die von außerhalb der EU importiert werden – Kaffee, Bananen, Tee – sollen »Fairtrade-Produkte« sein.
  5. Die ausgewählten Lieferfirmen sollen beweisen, dass die Arbeitsbedingungen für ihre Angestellten zu 100% fair sind, das heißt geltenden Tarifverträgen, EU-Normen sowie nationalem Recht entsprechen.
  6. Öffentliche Mahlzeiten sollen sich an einem Plan für gesunde Ernährung orientieren. Zwar haben manche Länder bereits solche Richtlinien, doch sollten sie auf EU-Ebene konkreter ausgearbeitet und deren Einhaltung besser kontrolliert werden. Als Richtlinien schlagen die Verfasser:innen des Manifests zum Beispiel vor, 75% der Getreidegerichte als Vollkorn zu servieren oder Lieferant:innen zu bevorzugen, die Getränke mit weniger Zucker anbieten.
  7. Lieferfirmen, die einen höheren Tierschutz garantieren, sollen prämiert werden.

Besonders die Versorgung an Schulen liegt Defranceschi, selbst Vater von 2 Schulkindern, am Herzen. Deshalb hat ICLEI zusätzlich die Petition »Eine gesunde Mahlzeit für jedes Kind an jeder Schule« gestartet, worin auch gefordert wird, Kindern gesunde Ernährung und richtiges Kochen im Unterricht beizubringen.

Der Ansatz klingt wie eine kluge Lösung für ein modernes Ernährungssystem. Doch wie realistisch ist er in der Praxis? Um das zu verstehen, hilft es, in Länder zu schauen, die solche Kriterien bereits umsetzen.

Was Schulkinder in anderen Ländern zu essen bekommen. Und wie die EU davon lernen kann

Manche Länder Europas setzen einige der Ziele im Manifest bereits seit Jahren um. Defranceschi ist überzeugt: Gestaltet die gesamte EU ihre Lieferkriterien für Mahlzeiten an Schulen oder im Gesundheitswesen danach, schont das nicht nur den Planeten, sondern auch die Gesundheit und macht das Lebensmittelsystem sozial gerechter:

Klima

Dass weniger Fleisch- und Milchprodukte sowie kürzere Lieferketten CO2 einsparen, wurde bereits vielfach untersucht. Der Wiener Gesundheitsverbund macht vor, wie das in der Praxis aussehen kann. Er beliefert 8 Krankenhäuser, 9 Pflegezentren und 1 Therapiezentrum der Stadt Wien mit Mahlzeiten. Im Jahr 2010 führte er mit dem Projekt »Natürlich gut Teller« klimafreundliche Mindestkriterien für seine Essenslieferungen ein. Seitdem enthalten die Mahlzeiten ausschließlich saisonales und regionales Obst und Gemüse, mindestens 30% der Lebensmittel stammen aus biologischem Anbau, der Fleischanteil wurde stark reduziert und Fisch kommt nur aus ökologischen Fischereien in Österreich. Das Ergebnis laut Untersuchung der Nichtregierungsorganisation Healthcare without Harm: Durch die Wahl saisonaler und regionaler Lebensmittel senkte die Stadt ihren CO2-Ausstoß pro Jahr um 21.600 Tonnen. Das entspricht dem jährlichen CO2-Fußabdruck von rund 2.000 Menschen.3 Und das sogar zu geringeren Kosten: Weil weniger Fleisch serviert wurde, konnte die Stadt 57.000 Euro sparen.

Eine Studie des Institute for Agriculture and Trade Policy hat gezeigt: Die 20 größten Fleisch- und Milchproduzenten der EU stoßen zusammen so viel CO2 aus wie halb Frankreich, Italien oder Großbritannien.

Copyright Richard Heede, Climate Accountability Institute

Auch Italien ist ein Vorreiter in Sachen nachhaltige Schulmensen: Zum Beispiel schreiben die landesweiten Kriterien vor, dass 50–100% der in Schulen servierten Mahlzeiten biologisch sein müssen. Der Anteil variiert je nach Art der Lebensmittel. Auch Zulieferer regionaler und saisonaler Produkte werden bei Ausschreibungen prämiert. Die Stadt Rom geht sogar den Verbrauch tierischer Lebensmittel an: Dort wird an Schulen und Kindergärten höchstens 2-mal wöchentlich Fleisch serviert. Laut einer Analyse der EU-Kommission kann die Stadt dank der Fleischreduktion im Jahr fast 9.000 Tonnen CO2 einsparen.

Lokale Kreisläufe und Armutsbekämpfung

In den letzten 20 Jahren ist die Anzahl der Bauernhöfe in der EU um fast 40% zurückgegangen. Besonders die kleinstrukturierten Höfe fürchten um ihre Existenz. Sorgt die EU dafür, dass mehr Lieferaufträge von Schulmensen an lokale Landwirt:innen gehen, garantiert sie ihnen ein sicheres Einkommen.

Die belgische Stadt Gent arbeitet seit 2013 an einer klimafreundlichen Lebensmittelpolitik, die Armut bekämpft und lokale, kleine Landwirt:innen unterstützt. So führte die Stadtverwaltung eine digitale Plattform ein, die Käufer:innen von Lebensmitteln (Restaurants, Lieferservices) mit lokalen Produzent:innen verbindet und dadurch Anreize für kürzere Lieferketten schafft. Seitdem gilt die Stadt EU-weit als Pionierin in Sachen lokaler Kreislaufwirtschaft und nachhaltiger Lebensmittelproduktion.

Zudem startete Gent eine Plattform, auf der Lebensmittel an Bedürftige verteilt werden, die andernfalls weggeschmissen würden. 1.000 Tonnen an überschüssigem Essen konnten so in den letzten 2 Jahren an über 57.000 Menschen in Not verteilt werden.

Gesundheit

Kinder in der EU ernähren sich immer ungesünder. 1 von 3 Kindern sei heute übergewichtig, sagt die Weltgesundheitsorganisation. »Es wird Zeit, dass Schulmahlzeiten gesünder und nahrhafter werden«, fordert deshalb Defranceschi. Dazu gehöre weniger Zucker, weniger Salz und weniger verarbeitete Lebensmittel. Bedenkt man, dass für viele Kinder das Essen in der Schule mehr als die Hälfte der täglichen Nahrung ausmacht, wird klar, wie wichtig gerade die Schulmahlzeiten für die Gesundheit von Kindern sind.

Defranceschi fügt hinzu: »Das müsste man mit Kochkursen und Ernährungsbildung verbinden, damit Kinder lernen, wie sie später einmal gesund für sich kochen können.«

Die Forderung der ICLEI-Kampagne an die Europäische Kommission

Copyright ICLEI

Im Moment haben nur 2 EU-Länder Kochkurse in ihren Lehrplänen: Schweden und Finnland. Die Forschung zu den Auswirkungen solcher Programme steht noch am Anfang. Eine Studie an finnischen Schulen aus dem Jahr 2014 kommt zu gemischten Resultaten: Kochunterricht und Ernährungsbildung könnten zwar das Essverhalten von Kindern positiv beeinflussen. Welche Art von Programm ideal sei und welche Rolle der Einfluss der Eltern spiele, könne aber nicht genau gesagt werden. Es bedürfe deshalb weiterer Studien.

Genau diese will ICLEI durchführen und hat dafür das Programm »Schoolfood4change« (auf Deutsch: Schulmahlzeiten für den Wandel) im Januar dieses Jahres gestartet.4 4 Jahre lang werden 3.000 Schulen in 16 Partnerstädten und 12 EU-Ländern nachhaltige Kriterien für Essensausschreibungen einführen sowie Ernährungsprogramme in den Unterricht integrieren. Forscher:innen begleiten das Projekt und untersuchen, wie es sich auf die Gesundheit der Kinder auswirkt.

Wo der Tellerrand aufhört

Die Gemeinschaftsverpflegung betrifft nur einen Teil des gesamten Lebensmittelsystems der EU. Grüne Schulteller machen daher noch keine grüne Ernährungskultur im ganzen Land, auch wenn sie als Vorbild für den privaten Sektor wirken könnten.

Außerdem bärgen unklare Definitionen das Risiko von Greenwashing, erklärt Defranceschi. Wie werde zum Beispiel »gesundes Essen« definiert? Ab wann gelte ein Hof als »kleiner Produzent«? Potenzielle Lösungen: Unabhängige Diätolog:innen könnten die Kriterien für gesundes Essen mitbestimmen, wie etwa in Italien. Und für »kleine Produzenten« schlägt ICLEI folgende Definition vor: »Das sind Höfe, die nicht mehr als 100.000 Euro Umsatz im Jahr machen und maximal 5 Mitarbeiter:innen (neben der eigenen Familie) beschäftigen. Die maximale Fläche hängt vom Produkt und landeseigenen Bestimmungen ab.«

Ein Argument, das häufig gegen klimafreundliche, regionale Ernährungsprogramme herangeführt wird: Der Preis sei zu hoch. Das stimmt nur teilweise. Die Stadt Wien hat zum Beispiel durch das oben beschriebene Projekt »Natürlich gut Teller«, bei dem Fleisch reduziert wurde, weniger Geld ausgegeben. Defranceschi fügt hinzu: »Außerdem wird ein eventuell höherer Preis dadurch ausgeglichen, dass wir gesünder essen und deshalb im Gesundheitssystem Einsparungen machen können.«

Die größte Hürde sieht Defranceschi im politischen Willen:

In der Theorie finden immer alle unsere Idee toll. Wenn es aber darum geht, sie auch einzuführen, wird es oft schwer. Vor allem in Regionen, wo der herkömmliche Landwirtschaftssektor sehr stark ist, denn da geht es um Stimmen. Ich würde mir manchmal wünschen, dass Politiker:innen mehr Mut zeigen, die Politik an den Nachhaltigkeitszielen der EU auszurichten und an zukünftige Generationen zu denken.

Motivation könnten sich europäische Entscheidungsträger:innen im Globalen Süden holen. Dort besitzen einige Länder – Äthiopien, Kenia oder die Philippinen zum Beispiel – fortschrittliche Lebensmittelprogramme. Defranceschi ließ sich von solchen Regionen inspirieren, und hat die Best-Practice-Beispiele zusammen mit dem Umweltprogramm der Vereinten Nationen im Podcast »The Power of the Public Plate« (auf Deutsch: die Macht des öffentlichen Tellers) festgehalten.

Eine der Vorreiterinnen darin: die Region Bahia in Brasilien. Wie dort die nachhaltige Lebensmittelbeschaffung an Schulen umgesetzt wird und was sie bisher gebracht hat? Das hat ein brasilianischer Journalist für uns vor Ort recherchiert. Seine Ergebnisse findest du im nächsten Artikel unserer Serie »Chain Reactions«.

This project was funded by the European Journalism Centre, through the Solutions Journalism Accelerator. This fund is supported by the Bill & Melinda Gates Foundation.

Dieses Projekt wurde vom European Journalism Center im Rahmen des Solutions Journalism Accelerator gefördert. Die Förderung wird von der Bill & Melinda Gates Foundation unterstützt.

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