Dies ist ein Artikel des werbefreien Magazins Perspective Daily. Lies hier noch mehr Nachrichten, die sich auf Lösungen fokussieren.
Du gehst nach Feierabend durch einen Supermarkt. Die ersten richtigen Sonnenstrahlen des Frühlings haben dir gute Laune gemacht und du hast Lust auf etwas Frisches oder Fruchtiges, um das Ende des Winters zu feiern. In der Obst- und Gemüseabteilung schlenderst du an den Auslagen vorbei und fährst mit deinem Finger über die Etiketten darunter. Seit Kurzem tragen alle Produkte nicht nur einen, sondern 2 Preise. Einen in Euro, den anderen in einer neu eingeführten Währung. Du bleibst vor den Erdbeeren stehen und musst kurz schlucken, als du die hohe Zahl auf dem neuen, zweiten Schild liest. Kein Wunder, es ist auch noch keine Erdbeerzeit und die Früchte kommen aus einem Gewächshaus aus dem Süden. Aber das ist es dir heute wert, du greifst zu.
Für das Abendessen entschließt du dich deshalb, eine Suppe aus regionalem Gemüse zu kochen. Lauch, Sellerie, ein paar Kartoffeln. Auch bei dieser Entscheidung hilft dir ein Blick auf die neuen Preisschilder, worauf regionale Waren gesondert gekennzeichnet sind.
An der Kasse ziehst du deine Bankkarte aus dem Portemonnaie sowie die hübsch gestaltete CO2-Kreditkarte, die vor ein paar Monaten in deinem Briefkasten lag. Bei jedem Einkauf musst du seither beide Karten an das Lesegerät halten. Etwas nervig, aber gut – wer Bonuspunkte oder Ähnliches sammelt, macht das ja schon länger so. Als du den Supermarkt verlässt, siehst du, wie die Person nach dir einfach ihr Handy an das Lesegerät hält. Vielleicht solltest du dir lieber auch die App herunterladen?
Die beschriebene Szene ist fiktiv und wird Stand heute in Deutschland so vorerst nicht stattfinden. Aber sie zeigt einen möglichen Baustein dafür, wie zum einen ein Anreiz zu klimafreundlicherem Konsum geschaffen werden könnte; zum anderen, wie Klimaschutz gerecht funktionieren könnte und ärmere Menschen finanziell nicht verhältnismäßig stärker belasten würde. Die Grundidee: Jedem Menschen steht ein jährliches Kontingent an CO2 zu, das er oder sie verbrauchen darf. Wer mehr verbraucht, muss sich zusätzliche Kontingente kaufen – von Personen, die ihr Kontingent nicht komplett ausschöpfen.
Neu ist diese Idee nicht. Erste theoretische Überlegungen für ein individuelles CO2-Budget gab es in den 90er-Jahren. Im Vereinigten Königreich wurde die Einführung einer CO2-Kreditkarte in den 2000er-Jahren sogar politisch ernsthaft diskutiert. Wegen zu vieler offener Fragen, was die Umsetzung betrifft, verwarf man die Idee dann jedoch.
Jetzt bekommt sie wieder größere Aufmerksamkeit. Hans Joachim Schellnhuber vom Potsdam Institut für Klimafolgenforschung erklärte das Konzept eines Pro-Kopf-Budgets im Januar in der ARD-Sendung Panorama. Lege man ein »fundamentales Gerechtigkeitsprinzip« zugrunde, stünden bis zur Mitte des Jahrhunderts rein rechnerisch jedem Menschen auf der Welt 3 Tonnen CO2 jährlich zur Verfügung, sagte er. Bereits 2009 schlug er als Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirats für Globale Umweltveränderungen der Merkel-Regierung diese Idee vor. Sie wurde abgelehnt.
Doch von vorne: Wie kommen die 3 Tonnen CO2 zustande? Und was an dieser Idee ist gerecht?
Das globale CO2-Budget
Seit der Industrialisierung ist die Konzentration von Kohlendioxid in der Erdatmosphäre rasant angestiegen – die globale Durchschnittstemperatur ist seitdem ebenfalls angestiegen, um rund 1,1 Grad Celsius. Je mehr Treibhausgase die Menschheit in den kommenden Jahren in die Atmosphäre pustet, desto stärker wird sich die Erde auch weiterhin erhitzen. Auf der Klimakonferenz in Paris hat sich die Weltgemeinschaft im Jahr 2015 darauf geeinigt, diese Erhitzung durchschnittlich möglichst auf 1,5 Grad, mindestens aber deutlich unter 2 Grad Celsius zu begrenzen. Denn je höher die Temperatur steigt, desto drastischer fallen die Folgen für alle Lebewesen und Ökosysteme auf der Erde aus.
Mithilfe von Klimamodellen lässt sich berechnen, wie viel CO2 wir noch maximal ausstoßen dürfen, um diese Limits mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht zu überschreiten. Die maximale Menge wird das »verbleibende globale CO2-Budget« genannt. Je nachdem, ob man das 1,5- oder das 2-Grad-Limit zugrunde legt, ergeben sich andere Budgets. Laut Weltklimarat IPCC gibt es eine Chance von 66%, die Erderhitzung auf 1,5 Grad Celsius zu begrenzen, wenn die Menschheit ab 2021 nur noch 400 Gigatonnen CO21 ausstößt. Für das 2-Grad-Limit bleiben 1.150 Gigatonnen.2
Aktuell stößt die gesamte Menschheit rund 40 Gigatonnen CO2 pro Jahr aus. Ohne drastische Veränderungen und den konsequenten Umbau in eine emissionsarme Gesellschaft könnte das CO2-Budget für das 1,5-Grad-Limit bereits in nicht einmal 10 Jahren aufgebraucht sein.
Das individuelle CO2-Budget
Das Unfaire: Es sind nicht alle Menschen gleich verantwortlich für den Anstieg des CO2-Gehalts in der Atmosphäre. Durchschnittlich verursacht jede Person auf der Welt 6 Tonnen CO2 pro Jahr, in Deutschland sind es im Schnitt knapp 11 Tonnen pro Kopf. Doch hinter diesen Durchschnittswerten verbirgt sich ein großes Ungleichgewicht:
Schlüsseln wir den durchschnittlichen Ausstoß pro Person auf und berücksichtigen dabei, wie reich diese Person jeweils ist, zeigt sich eine riesige Unwucht. Wer zum reichsten Prozent zählt, sorgt pro Jahr für mehr als das 15-Fache an Treibhausgasemissionen als der globale Durschnitt – nämlich für 101 Tonnen CO2. Gleichzeitig tragen die ärmsten 50% der Erdbewohner – etwa 4 Milliarden Menschen – im Schnitt lediglich 1,4 Tonnen CO2 pro Jahr bei. – Aus dem Text »Warum Milliardäre und Klimarettung nicht vereinbar sind« von PD-Autor Chris Vielhaus
Hier kommt wieder die Idee des individuellen CO2-Budgets ins Spiel. Zwar haben sich Regierungen mit dem Pariser Klimaabkommen dazu verpflichtet, ihre Emissionen zu senken. Auch Unternehmen müssen ihre Produktion Schritt für Schritt umbauen und in manchen Branchen bereits jetzt für jede Tonne CO2, die sie ausstoßen, bezahlen – was sich über höhere Preise indirekt auf die Verbraucher:innen umlegt. Wendet man jedoch ein fundamentales Gerechtigkeitsprinzip an, wie Schellnhuber es nennt, rückt auch die Verantwortung jedes und jeder Einzelnen ganz konkret in den Blick.
Gerechnet mit dem globalen CO2-Budget für das 2-Grad-Limit ergibt das für die wachsende Weltbevölkerung durchschnittlich rund 3 Tonnen pro Jahr und Kopf bis zum Jahr 2050. Legt man das 1,5-Grad-Limit zu Grunde, sind es sogar nur 1,5 Tonnen. Da beides bloß Durchschnittswerte sind, könnten zu Beginn jedem auch mehr zustehen – später dafür aber entsprechend weniger.
Laut einer aktuellen Umfrage der Europäischen Investitionsbank wären 56% der befragten Deutschen für ein individuelles CO2-Budget, um klimaschädlichen Konsum zu verbrauchen. In der Altersgruppe der unter 30-Jährigen sind es sogar 67%.
Doch wie könnte das Ganze in der Praxis aussehen?
2 Vorschläge für die Umsetzung
Da es das Konzept eines individuellen CO2-Budgets bislang nirgends gibt, fehlen auch Praxisbeispiele, woran sich andere Regierungen orientieren könnten. Für Deutschland haben unterschiedliche Organisationen allerdings verschiedene konkrete Vorschläge gemacht:
Das komplementäre Währungssystem
Das Ehepaar Angela und Jens Hanson stellt in seinem Buch »Exitstrategie Klimawährung ECO« eine Idee für persönliche Emissionsbudgets vor. Zusätzlich zum Euro und anderen Länderwährungen fordern sie die Einführung einer Ressourcenwährung für CO2. Als Namen schlagen sie ECO vor, Earth Carbon Obligation.
Alle Menschen sollen die neue Währung als »persönliches, monatliches ökologisches Grundeinkommen« erhalten, das sie so ausgeben dürfen, wie sie wollen. Alle Produkte und Dienstleistung tragen bei dieser Idee neben dem Euro-Preis ein zweites Preisschild – so sollen Verbraucher:innen auf einen Blick die klimafreundlicheren Varianten erkennen und sich dennoch frei entscheiden können. Mit übrig gebliebenen Kontingenten können die Privatpersonen untereinander handeln, was einen zusätzlichen Anreiz zu emissionsarmem Konsum bieten soll.
Die Klimakreditkarte
Miriam Rehm, Vera Huwe und Katharina Bohnenberger wählen einen etwas anderen Ansatz. Die 3 Wissenschaftlerinnen veröffentlichten bei der Bertelsmann Stiftung kürzlich eine Studie mit dem Titel »Klimasoziale Transformation – Klimaschutz und Ungleichheitsreduktion wirken Hand in Hand«. Darin schlagen sie als eines von mehreren Instrumenten eine sogenannte Klimakreditkarte vor.
Bei Käufen oder dem Abschluss von Verträgen könnte, wie bei einer handelsüblichen Kartenzahlung, die Klimakreditkarte angegeben und das entsprechende Kontingent vom Guthaben abgebucht werden. […] Ist das Kontingent aufgebraucht, muss der übliche Marktpreis für die Güter bezahlt werden. Verbleibendes Guthaben könnte gespart, gespendet oder gegen einen Umrechnungskurs in Euro ausbezahlt werden. Letzteres würde auch Anreize zum sparsamen Umgang mit den vorhandenen Ressourcen schaffen. – Aus der Studie »Klimasoziale Transformation – Klimaschutz und Ungleichheitsreduktion wirken Hand in Hand«, Seite 27
Die Klimakreditkarte könnte zuerst für Waren und Dienstleistungen eingeführt werden, die sowohl besonders CO2-intensiv als auch für ärmere Menschen immer schwieriger zu bezahlen seien, so die Autorinnen. Insbesondere gelte das für die Bereiche Wohnen, Verkehr und Lebensmittel. Zum Beispiel erhält jede:r Bürger:in ein Kontingent von 220 Kilogramm regionalem Gemüse und Obst pro Jahr, das er oder sie zu einem vergünstigten Preis kaufen kann.
Egal wie – es muss mehr über Klima und Ungleichheit gesprochen werden
Beide Ansätze haben das Potenzial, die Treibhausgasemissionen eines Landes, worin sie umgesetzt werden, schnell und drastisch zu senken. Die Frage, wie gerecht es tatsächlich wäre, das individuelle Budget mit einem privaten Emissionshandel zu verknüpfen, bleibt. Forschende der University of Southampton argumentieren, dass nur ein Modell ohne Handel wirklich gerecht sei. Denn ansonsten würden reiche Menschen ihren konsumintensiven Lebensstil einfach auf Kosten von Menschen mit geringerem Einkommen fortsetzen.
Bisher gibt es aber weder in der EU noch in Deutschland Bestrebungen, ein individuelles CO2-Budget – in welcher Umsetzung auch immer – einzuführen. Wirtschafts- und Klimaminister Robert Habeck (Grüne) sprach sich im Gegenteil im Januar strikt gegen ein solches System aus: »Die Gerechtigkeitsfrage lösen wir in allen sozialen Gesellschaften nicht über das Verbot von Wohlstand und Arbeit oder Reichtumserwerb, sondern über die Besteuerung.«
Doch bislang sinken die Emissionen Deutschlands nicht schnell genug, und andere Instrumente für gerechten Klimaschutz wie das Klimageld lassen auf sich warten. Sollten dabei nicht alle zur Verfügung stehenden Maßnahmen genutzt oder zumindest genau ausdiskutiert werden? Zu diesem Schluss kamen Wissenschaftler:innen aus Großbritannien, Schweden und Israel. In einem Artikel in der Fachzeitschrift Nature aus dem Jahr 2021 argumentieren sie, dass die Idee eines individuellen CO2-Budgets in den 90ern ihrer Zeit weit voraus gewesen sei – und dass es jetzt an der Zeit sei, sie erneut zu prüfen.